L. Bürgi u.a. (Hrsg.): Ausgeschlossen einflussreich

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Titel
Ausgeschlossen einflussreich. Handlungsspielräume an den Rändern etablierter Machtstrukturen. Festschrift für Brigitte Studer zum 65. Geburtstag


Herausgeber
Bürgi, Lisia; Keller, Eva
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
CHF 56.00
von
Elisabeth Joris, freiberuflich

Während ihrer Jahre als Professorin für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Bern hat Brigitte Studer insbesondere im Bereich der Sozialversicherungs-, der Bewegungs-, der Kommunismus- und der Geschlechtergeschichte der historischen Forschung entscheidende Impulse gegeben. Die vorliegende Festschrift versammelt dreizehn Aufsätze von Weggefährt:innen, akademischen Kolleg:innen, Assistent:innen und Schüler:innen, die alle eine Verbindung zu Studers Forschungen zur Schweizer Geschichte aufweisen.

Die unter dem Titel «Gemeinsam bewegen und verändern» veröffentlichten Beiträge des ersten der drei thematisch gegliederten Teile fokussieren auf Handlungsspielräume von Gruppen, denen der Zugang zu institutionalisierten Machtpositionen erschwert ist: Frauen, Fabrikarbeiter:innen, Arbeitslose. Caroline Arnis Analyse der Umfrage einer Schülerin der Sozialen Frauenschule Zürich, die 1946 fünfzig verheiratete Arbeiterinnen aus dem Zürcher Oberland über ihre Lebenssituation befragte, verweist auf das Spannungsfeld zwischen Lohn- und Hausarbeit. Arni bringt den Widerspruch auf den Punkt: «Den Frauen gefällt die Arbeit in der Fabrik und sie würden sie lieber nicht machen» (S. 31). Der Beitrag von Matthias Ruoss und Regula Ludi zeigt, wie die in Vereinen organisierten Frauen sich über ihre gemeinnützige Freiwilligenarbeit neue Handlungsspielräume aneigneten. Von dieser Form der Gemeinnützigkeit grenzte sich die neue Generation von Feministinnen mit der Neucodierung ihres unentgeltlichen Engagements als solidarisches Handeln ab. Um Gemeinsames und Trennendes geht es auch Carola Togni. Wie der Bund schweizerischen Frauenorganisationen (BSF) traten die sozialistischen Arbeiterinnenvertreterinnen in der Zwischenkriegszeit für das uneingeschränkte Recht auf Arbeit ein. Während sich der BSF aber vorwiegend an die Behörden wandte, ging es den organisierten Arbeiterinnen vor allem darum, ihre Parteigenossen zu überzeugen, dass die Lohnarbeit von Frauen ein entscheidendes Element des sozialistischen Klassenkampfes sei. Wenig bekannte Aspekte der Frauenbewegung der Zwischenkriegszeit behandelt Marc Perrenoud unter dem Titel «La Genève internationale, une ressource pour les féministes suisses». Bedeutende Exponentinnen des BSF und der Frauenstimmrechtsbewegung waren in Gremien des Völkerbundes oder der International Labour Organization (ILO) vertreten. So auch Emilie Gourd – jedoch konnte diese als bestens vernetzte internationale Aktivistin kaum auf die Unterstützung des Bundesrats zählen, der in seiner Mehrheit das Frauenstimmrecht ablehnte. Kaum bekannt dürfte der Kampf von 1971 gegen die Schliessung der Alusuisse-Fabrik SAVA in Porto Marghera im Industriegürtel Venedigs sein, den Leo Grobs Beitrag «Umkämpfte Deindustrialisierung» nachzeichnet. Er schreibt sich in die militanten Streikaktionen des damaligen Italiens ein und endet mit einem vom italienischen Staat ermöglichten Kompromiss.

Die Beiträge im zweiten Teil, «Individuelles Handeln und geteiltes Erfahren», analysieren drei sehr unterschiedliche migrationsspezifische Themen. Gabrielle Hauch stellt den autobiografischen Roman Land ohne Schlaf von Isa Strasser von 1970 in den Kontext der von der Autorin geteilten Erfahrungen von Intellektuellen, die in den 1920er Jahren in die Sowjetunion übersiedelten und ab 1927 von Repressionen betroffen waren. Anhand der Motivlage von westeuropäischen Kommunist:innen gelang es Strasser, so Hauch, in Anlehnung an die Thesen von Bini Adamczak von 2015, die Perspektiven und Hoffnungen dieser Akteur:innen als «unerfüllte Zukunft» zu erkennen, als «mögliche Gegenwart, die nie gegenwärtig werden konnte» (S. 112 f.). Grundlage des in Briefform gestalteten Beitrags «Löchrige Quellen und lückenhafte Erzählungen» von Bernhard C. Schär ist das 2000-seitige Tagebuch von Louis Wyrsch, einem Nidwaldner Offizier in Diensten der niederländischen Kolonialmacht in Borneo, sowie Hunderten von Briefen und weiteren Dokumenten im Staatsarchiv Nidwalden. Frau Silla war Wyrschs Haushälterin, Njai auf Javanisch, und Mutter von fünf Kindern, von denen er zwei, Alois und Constantia, bei seiner Rückkehr in die Schweiz mitnahm. Alois wurde als liberaler Landamann und Nationalrat «einer der ersten Regenten und Parlamentarier ‹of color› in Europa» (S. 139). Schär formuliert seine Erzählung als Brief an die «liebe Frau Silla», um die grundsätzliche Problematik der Quellen und methodischen Zugänge zu erläutern, auf dem das historische Wissen basiert: «Es privilegiert die europäische Erfahrung über die nicht-europäische, die Sicht von Gebildeten über jene der nicht formal Gebildeten, und das Handeln von Männern über jenes von Frauen» (S. 124). Zu den Unterprivilegierten gehörten die vielen jungen Frauen – mehr als jede zehnte Deutschschweizerin der Jahrgänge 1930 bis 1960 –, die ein Welschlandjahr in einem privaten Haushalt absolvierten. Auch wenn sie durch ihre Nationalität einen Rechtsstatus hatten und ihr Aufenthalt von vornherein begrenzt war, sahen sie sich nach Kristina Schulz vor ähnliche Herausforderungen gestellt wie die heutigen Care-Migrantinnen. In beiden Fällen läuft deren Arbeit Gefahr unsichtbar und schlecht bezahlt zu bleiben, resultieren «Verwundbarkeit und Isolation aus materieller Abhängigkeit und Diskontinuitäten in sozio-familialen Bindungen» (S. 156).

Der letzte Teil «Deuten und Erinnern» fokussiert auf die je nach Perspektive unter schiedliche Beschreibung von Ereignissen und Persönlichkeiten. André Holenstein zeigt am Beispiel der Aushandlung des Landfriedens im Thurgau von 1713, wie auf dem Hintergrund der konfessionellen Gegensätze, unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen und strukturellen Ungleichheiten im Corpus helveticum der 13 alten Orte die Konstellationen je nach Geschäft immer wieder wechselten. Die Durchsetzung des Landfriedens wurde geprägt von pragmatischer Sachlichkeit und dem Grundsatz der Parität. Scharfe Gegensätze zeigen sich dagegen in der unterschiedlichen Deutung des nie vollständig geklärten Todes von Sales Vogel, einem Luzerne Füsilier, der im Vorfeld des Landesstreik vom November 1918 beim Truppeneinsatz gegen Demonstrierende auf dem Zürcher Fraumünsterhof von einer Kugel tödlich getroffen wurde. Während für die militärische Führung und das bürgerliche Lager der Schütze zum Märtyrer im Kampf gegen die bevorstehende Revolution stilisiert wurde, sprach die Arbeiterpresse von einem Querschläger aus den Waffen der Ordnungstruppen. «Die Schüsse auf dem Fraumünsterplatz», so das Fazit Roman Rossfelds, «trugen zu einer weiteren politischen Polarisierung und zunehmend unversöhnlichen Haltung zwischen Konfliktparteien während dem Landesstreik bei» (S. 221). In ihrem Beitrag «Ist 1967 das wahre achtundsechzig?» geht Regina Wecker der Frage nach den Anfängen in den historischen Darstellungen zum 68er Aufbruch nach. Die Gegenkultur manifestierte sich im ersten Zürcher Love-in im Spätsommer 1967 sowie in einer ganzen Reihe subkultureller Projekte wie der Zeitschrift Hotcha. Kaum Erwähnung findet in den Untersuchungen zur Gegenkultur nach Wecker – mit Ausnahme von Brigitte Studers Analyse der 68er Bewegung – allerdings die Situation von Frauen. Von aktueller Bedeutung erweist sich der Beitrag von Patrick Kury über die schweizerische «Willkommenskultur» im Kalten Krieg. Während nach der sowjetischen Niederschlagung der ungarischen Reformbewegung 1956 Zehntausende Ungar:innen aufgenommen wurden, sollte der verhältnismässig äusserst geringen Zahl ägyptischer Juden und Jüdinnen, die im Gefolge der Suez-Krise Zuflucht suchten, die Schweiz nur als Transitland dienen, ähnlich der Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen in Jahren 1933 bis 1945. Die vom Kalten Krieg geprägten Aufnahmepraktiken manifestierten sich damals auch im Kontext des nationalen Befreiungskampfes gegenüber algerischen Asylsuchenden und 1973 wieder gegenüber den mehrheitlich sozialistischen Flüchtlingen aus Chile nach dem Militärputsch vom 11. September 1973. Ausgehend von der gleichzeitig praktizierten Politik der offenen Grenzen und der Abwehr von Flüchtlingen, wäre es, so Kury «ratsam, die Geschichte des Asyls nach 1956, wie auch diejenige vor 1914 vermehrt aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher, politischen und ökonomischer Opportunitäten zu betrachten» (S. 265). Auf widersprüchliche Haltungen verweist Sacha Zala in seinem Beitrag zu Carl Lutz, der als schweizerischer Vizekonsul in Budapest 1944/1945 Zehntausende Jüdinnen und Juden vor der Ermordung rettete und damit gegen die Normen der «absoluten Neutralität» verstiess. Erst im Gefolge der veränderten Neutralitätsverständnis seit den 1990er Jahren erfuhr er von den Behörden eine zunehmend positive Erinnerung, die in der mit dem nach ihm benannten Sitzungsraum im Bundeshaus 2018 ihren Höhepunkt erreichte. Ausgeblendet bleibt dabei, dass derselbe Carl Lutz sich auch noch 1958 – also zehn Jahre nach der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte – als vehementer Befürworter der in den Südstaaten der USA sowie in Südafrika praktizierten «Rassensegregation» zeigte.

Wenn auch nicht so deutlich wie die beiden letzten Beiträge trägt doch die Mehrheit der hier präsentierten Aufsätze zur Reflexion der Kriterien zur Beurteilung ambivalenten Handelns bei und plädiert so für die Suche nach den Rissen in vordergründigen Deutungsmustern. Damit leistet der Sammelband mit seinen mehrheitlich anregenden Ansätzen einen wichtigen Beitrag zur neueren Forschung im Feld der Schweizer Geschichte.

Zitierweise:
Joris, Elisabeth: Rezension zu: Bürgi, Lisia; Keller, Eva (Hg.): Ausgeschlossen einflussreich. Handlungsspielräume an den Rändern etablierter Machtstrukturen. Festschrift für Brigitte Studer zum 65. Geburtstag, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 292-295. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.